Mit der »Kircheimer Zipfelmütze« hatte ich noch eine Rechnung zu begleichen. Letztes Jahr bin ich bereits nach ca. 175 km in Oberaula Richtung Heimat abgebogen. DNF oder »did not finish« nennt man das. Auch rückblickend war diese Entscheidung richtig, denn nach einer Erkältung war das 400 km Brevet das erste der Saison 2017. Kopf und Körper waren noch nicht bereit für diese Distanz.
Diesmal war die Ausgangslage deutlich besser! Keine Erkältung im Vorfeld, bereits einen 200er und einen anspruchsvollen 300er in den Beinen und eine sehr gute Wettervorhersage. Nur meine Motivation war nicht besonders groß! Doch ich fühlte mich irgendwie verpflichtet, die Brevet-Serie fortzusetzen. Schließlich möchte im nächsten Jahr gern Paris-Brest-Paris mitfahren.
Meine Frau war so nett und brachte mich zum Bürgerhaus in Lollar, wo Christian, Stefanie und Kerstin wieder alles perfekt vorbereitet hatten, damit wir gestärkt in die Nacht starten konnten.
30 Randonneure waren am 5.Mai angetreten, um die »Zipfelmütze« in maximal 27 h zu bewältigen. Darunter einige Bekannte. Besonders gefreut habe ich mich, Peter aus Düsseldorf wiederzusehen und Jesko kennenzulernen.
Nach Christians Ansprache und dem obligatorischen Gruppenfoto machten wir uns bei sommerlichen Temperaturen um 18 Uhr auf den Weg.
Giessen-Lollar – K1 Hessisch-Lichtenau (ARAL-Tankstelle) – 118 km
Bis ca. 10 km vor Hessisch-Lichtenau fuhr ich in Gesellschaft, mal zu zweit im Plaudermodus oder in größeren Gruppen mit bis zu 15 Fahrern. Meistens war ich das Schlusslicht. Nicht um zu »lutschen«, sondern weil ich mich mitten drin einfach nicht wohl und unter Druck gesetzt fühle. Als es dunkel wurde, empfand ich es als sehr angenehm, den roten Lichtern hinterherzufahren und mich nicht auf mein Navi konzentrieren zu müssen.
In Homberg (Efze) war im Ort eine Baustelle zu passieren. Das war ziemlich chaotisch. Mir blieb nichts anderes übrig als abzusteigen und zu schieben. Gefangen in den Absperrungen dauerte es eine Weile, bis mich Passanten auf ein Schlupfloch aufmerksam machten. Die roten Rücklichter waren enteilt, aber mit Vollgas fand ich schnell wieder Anschluss.
In der Altstadt wurde offensichtlich ein Fest gefeiert. Im Schritttempo schlängelten wir uns durch die Menschenmenge. Ich machte drei Kreuze, als wir am Ortsausgang wieder freie Bahn hatten.
Die große Gruppe zersplitterte nach und nach in kleinere Grüppchen und die nächste Baustelle folgte ca. 10 km vor Hessisch-Lichtenau. Ein lang gezogener Anstieg auf abgefräster Fahrbahn war zu überwinden. Ein Randonneur hielt dort mit Plattfuß am Straßenrand und ein Kollege half ihm sein Rad wieder flott zu machen.
An der ersten Kontrolle traf ich die meisten enteilten Randonneure wieder, denn am Nachtschalter der ARAL-Tankstelle hatte sich eine lange Schlange gebildet. Ich behielt die Ruhe und doch nervte es mich, dass es dem ein oder anderen nur scheibchenweise einfiel, was er noch alles so braucht. Ich kühlte spürbar aus und nutzte die Gelegenheit, mich wärmer anzuziehen.
K1 – K2 Knüllwald Remsfeld (ARAL-Tankstelle) – 158 km
Zunächst rollten wir zu viert weiter in die Nacht, allen voran Peter. Nach ein paar schnellen Kilometern klinkte er sich aus und ließ sich zurückfallen. Ich folgte den beiden anderen noch eine Weile, spürte aber an den Steigungen, dass mich dieses Tempo zu viele Körner kostet und ließ ebenfalls abreißen.
Ich fühlte mich wieder frei und in der Dunkelheit gleichzeitig etwas einsam. Doch die Gewissheit, dass im Fall eine Panne von hinten Hilfe kommen würde, gab mir Sicherheit und verdrängte die negativen Gedanken.
Im Grunde war es herrlich, in der sternenklaren Nacht auf einsamen Straßen frische Luft zu atmen und gut voranzukommen. Aber in gewisser Weise bin ich auch ein »Angstschisser«, der immer alles unter Kontrolle haben möchte und dabei zuviel nachdenkt.
Leider war auch die zweite Kontrolle eine Tankstelle mit Nachtschalter, wo Randonneure und andere Kunden Schlange standen. Zudem war die Verkäuferin mit der Situation etwas überfordert und reagierte teilweise gereizt. Ich fror und war erneut etwas genervt ob der langen Wartezeit. Mein Problem.
K2 – K3 Heubach (Alfred Kiesel) – 249 km
Es dauerte eine Weile, bis ich wieder angenehme Betriebstemperatur hatte. Die lange Steigung vor Oberaula trug dazu bei. Im Rückspiegel sah ich ein Licht, das langsam näher kam und im Rhythmus eines bergauf pedalierenden Randonneurs hin und her pendelte. Es war Peter, der mich eingeholt hatte und kurze Zeit später an mir vorbei sauste, als ich anhielt.
Am Autohof Kirchheim trafen wir uns wieder. Gott sei Dank kein Nachtschalter! Die freundliche Bedienung bat mich herein und verpasste mir den obligatorischen Stempel. Peter hatte es sich in der warmen Tankstelle bereits gemütlich gemacht. Ich gönnte mir eine Bockwurst mit Senf und einen Kaffee und gesellte mich zu ihm. Gähnend und vor Kälte zitternd – machten wir uns alsbald auf den Weg Richtung Heubach, jeder für sich. Ich sah ihn ein letztes Mal, als er mich während eines Pinkelstopps überholte und sich versicherte, ob bei mir alles in Ordnung sei.
Mit 5 Kleidungsschichten am Oberkörper, 3 Paar Handschuhen, Knielingen , dicken Merino-Kniestrümpfen sowie dünnen Überschuhen, trotzte ich der Kälte (ca. 2 grad Celsius) und kämpfte gegen die zunehmende Müdigkeit an.
Gegen 4:30 Uhr konnte ich beim Fahren kaum noch die Augen offen halten. Einen Sekundenschlaf wollte ich nicht riskieren. In einer Ortschaft vor Fulda legte ich mich in einem Bushäuschen Schlafen, auf einer harten Holzbank, zugedeckt mit einer Rettungsdecke. Etwa eine halbe Stunde später war ich wieder putzmunter. Die Sonne ging gerade auf und die Vögel zwitscherten. Erstaunlich, wie positiv sich ein so kurzes Nickerchen auf die Psyche auswirken kann!
Fulda passierte ich früh morgens ohne nennenswerten Verkehr und ich freute mich schon riesig auf das Frühstück beim »Kiesel«, wo Christians Frau und seine Schwester an K3 in Heubach einen Verpflegungsstützpunkt eingerichtet hatten. Die etwa eine Stunde Aufenthalt, die tolle Verpflegung und das nette Gespräch mit den beiden Damen haben mich nach der kalten und schlaflosen Nacht wieder fit für die letzten 150 km gemacht. Danke!
K3 – K4 Burgsinn (Café Müller) – 284 km
Allein setzte ich die Runde fort und nach dem ersten Anstieg in der herrlichen Rhön hielt ich an um mich teilweise zu entblättern. Die Sonne strahlte und entfaltete nach und nach ihre wärmende Kraft.
Kurz vor Burgsinn ein weiterer Stopp. Das Sitzpolster meiner Radhose war nass und meiner Allerwertester machte sich erstmals durch leichtes Brennen bemerkbar. Mit trockenen Klamotten und mit Sonnencreme Faktor 50 eingeschmiert, rollte ich in kurz/kurz weiter Richtung K4. Mein Hintern gab für lange Zeit wieder Ruhe.
Im Café Müller holte ich mir – ohne lange zu pausieren – meinen vierten Stempel.
K4 – K5 Florstadt-Staden (Hessol-Tankstelle) 359 km
Das Wetter war traumhaft, ebenso die Landschaft, doch leider nahm der Verkehr nun Stunde um Stunde zu. Die beiden langen Anstiege und rasanten Abfahrten im Spessart waren noch ein Genuss.
Doch ab Bad Orb war das Verkehrsaufkommen dermaßen hoch, dass ich mich arg gestresst und zunehmend unwohl auf der Straße fühlte.
An der Hessol-Tankstelle in Florstadt-Staden stillte ich nochmal Hunger und Durst für die verbleibenden knapp 50 km. Eine Randonneurskollege, der mir insbesondere durch seinen – laut knatternden Hinterrad-Freilauf – in Erinnerung geblieben ist, machte hier ebenfalls ein Päuschen und suchte ein Schlafplätzchen. Wir unterhielten uns nett, bevor ich allein Richtung Giessen weiterzog.
K5 – Giessen (Jet Tankstelle) – 402 km
Auch der letzten Streckenabschnitt war – für meinen Geschmack – geprägt von zu viel Verkehr, so dass ich kaum Landschaftseindrücke in Erinnerung behalten habe.
Eine Stunde vor meiner erwarteten Ankunft in Giessen funkte ich meine Frau an, mit der Bitte, mich an der Jet-Tankstelle abzuholen.
Um 16:40 hatte ich auch die letzte Hürde genommen, den Gießener Stadtverkehr. Glücklich und zufrieden belohnte ich mich mit einem kalten »Becks-Bier« und wartete auf meine »Liebste«, die kurze Zeit später eintraf und mich nach Hause kutschierte.
Die Rechnung mit der »Kirchheimer Zipfelmütze« ist beglichen. Zum Schluss brannte der Hintern wieder etwas. Beim nächsten Mal werde ich es mit Babypuder versuchen.
Wieder einmal möchte ich mich ganz herzlich bei Christian, Stefanie und Kerstin für die tolle Organisation bedanken!
Bis Bad Orb fand ich die Strecke sehr schön, aber für den dann folgenden Abschnitt würde ich mir für die Zukunft eine verkehrsärmere Alternative wünschen. Natürlich ist mir klar, dass es gerade bei langen Brevets nicht einfach ist, solche Streckenabschnitte zu vermeiden.
In diesem Sinne bis zum nächsten Brevet!