Das 400er Brevet in Warberg (ARA Ostfalen) war bisher mein längstes und trotz der erneuten Leidensgeschichte bezüglich meines Sitzfleisches zugleich mein schönstes!
Es herrschte allerbestes Radwetter ohne einen Tropfen Regen mit bis zu 25 Grad Celsius, was mir persönlich schon etwas zu warm war. Hartmut hatte ein Strecke genau nach meinem Geschmack zusammengestellt, abwechslungsreiche Landschaft, wenig befahrene Straßen mit überwiegend gutem Belag, ein permanentes Auf und Ab mit Steigungen bis maximal 10% und jede Menge Gelegenheiten, mit Druck auf den Pedalen die Kuh fliegen zu lassen. Nur auf die für meinen Geschmack deutlich zu viele Kopfsteinpflasterpassagen hätte ich gut gern verzichten können, denn bereits beim ersten Überfahren hat es meinen Garmin Navi aus der Halterung gerissen und in hohem Bogen durch die Luft katapultiert. Nach Einsammeln der Einzelteile stellte ich aber zu meiner Beruhigung fest, dass dieser den Sturz klaglos überstanden hat.
Gestartet sind 31 Randonneure und ganz offensichtlich war ich in einer Hochburg von Liegerädern und Velomobilen gelandet. So viele „Lieger“ in unterschiedlichsten Formen und konstruktiven Ausprägungen hatte ich bisher noch nicht gesehen. Uwe und Günther, die im selben Quartier wie ich übernachteten, waren beide liegend unterwegs, Uwe mit Velomobil und Günther auf seinem Liegerad. Günther, der durch massive Sitzfleischproblme vom Rennrad aufs Liegerad umgestiegen ist, berichtete, dass er, wenn gar nichts mehr ging, mit zwei Radhosen übereinander gefahren ist. Dass dieser Tipp auch für mich am Ende des Tages Gold wert sein würde, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Pünktlich um 8:30 Uhr startete das Brevet. Diesmal war ich mittendrin, doch das Starterfeld zog sich schnell auseinander, so dass ich bereits nach kurzer Zeit allein in meinem Rhythmus pedalierte. Die beiden Velomobile mit Uwe und Hartmut am Steuer starteten mit einigen Minuten Verspätung, sausten aber bereits nach wenigen Kilometern in einem Affenzahn an mir vorbei.
Ich fühlte mich richtig gut und auch ohne Powermeter und dem zu Hause vergessenen Pulsgurt fand ich bis zum Schluß die richtige Intensität, vielleicht sogar besser als mit beiden Hilfsmitteln. Ich fuhr spontaner als sonst, hatte mehr Freude am Fahren, weil keine Zahl mir ein schlechtes Gewissen bereitete, dass ich evtl zu viele Körner verpulvere und deshalb am Ende eingehen werde. Es gab Phasen, wo ich gemütlich rollte, manchmal zu zweit, überwiegend jedoch allein, aber auch solche, in denen ich richtig Druck machte, weil mich die Strecke dazu verleitete oder weil ich ob der Sitzbeschwerden möglichst schnell nach Hause wollte. Die Abfahrten nutzte ich meistens zum Ausruhen.
Bis etwa 120 km war alles im grünen Bereich und ich wähnte mich bereits in trügerischer Sicherheit, dass ich diesmal von Sitzbeschwerden verschont werden würde. Eine falsche Hoffnung, wie sich kurze Zeit später rausstellte. Zwischen Kilometer 120 und 170 kamen und gingen die Beschwerden am Allerwertesten, allerdings in erträglichem Maße, so dass ich immer noch optimistisch war, genussvoll meinen ersten 400er nach Hause zu bringen.
Nach einer kurzen Pause an Kontrollstelle 2, folgte ein ein etwa 70 km langer und schneller Streckenabschnitt, auf dem ich mich teilweise in einen Rausch fuhr und keinerlei Schmerzen am Hintern verspürte. Am liebsten wäre ich bis zur nächsten Kontrolle komplett durchgebrettert, denn die Straßen waren teilweise wie ausgestorben, so dass ich ungehindert, meist in Unterlenkerposition, Kilometer um Kilometer machte.
Dennoch ließ ich es mir nicht nehmen, hier und da anzuhalten, um Fotos zu schießen, um Landschaftseindrücke festzuhalten. Dass sich meine Kohlehydratspeicher schneller als bei lockerem Pedalieren leerten, spürte ich am zunehmend aufkommenden Kohldampf. Im Geiste malte ich mir bereits ein deftiges Abendessen aus. An der dritten Kontrollstelle setzte ich den unterwegs gehegten Wun
sch in die Tat um. Ich pausierte etwas länger und verleibte mir zwei Bockwürste mit Brötchen und Senf ein, dazu eine kalte Cola und als Wegzehrung nahm ich noch zwei Laugenbrezeln mit. Mein Wasserbedarf war bei den Temperaturen übrigens deutlich höher als sonst, ebenso der Bedarf an Zuckerplörre, deshalb gönnte ich mir an allen Kontrolltankstellen eine kalte Cola.Mit gefülltem Magen und ausreichend Proviant an Bord ging es auf die vorletzte – 125 km lange – Etappe nach Oschersleben, durch den Osten in die Nacht. Etliche Höhenmeter waren auf dem Weg dahin zu überwinden.
Das Durchfahren der Nacht empfand ich als total befreiend, wie im Flow glitt ich einsam dahin. Die Straßen waren leer und in den Dörfern, die ich teilweise im Affenzahn durchfuhr, herrschte bis auf wenige Ausnahmen Totenstille. Doch hier lauerten andere Gefahren, Kopfsteinpflaster und Schlaglöcher. Das war wirklich sehr unangenehm und nach dem Durchfahren eines tiefen Schlagloches glaubte ich schon, mein Vorderrad geschrottet zu haben. Doch die stabile Felge und die 28mm Pneus hatten den Schlag unversehrt überstanden, Gott sein Dank!
Aber noch weniger erfreulich als der teilweise schlechte Fahrbahnbelag war das wieder zunehmende Brennen meines Allerwertesten. Wie schon beim 300er in Gießen konnte ich den Schmerzen nur durch ständiges Anheben des Hinterns oder durch Fahren im Wiegetritt entgehen. Das Sattlepack hat ich übrigens so fest verzurrt, dass es diesmal dem Wiegetritt unbeweglich standhielt.
Nach knapp 300 Kilometern hatte ich die Faxen dicke und hielt an. Am Ende eines langen Anstieges machte ich mich im Scheinwerferlicht meiner Stirnlampe – etwas abseits vom Wegesrand – komplett nackig. Ich packte Feuchttücher, Handtuch, Sitzcreme und frische Klamotten aus und nachdem ich meine Wundstellen trockengelegt und versorgt hatte, schlüpfte ich in die trockene Radhose und in zwei wärmere Oberteile. War das ein herrliches Gefühl, in trockenen Klamotten durch die Nacht zu rollen, noch dazu mit fast beschwerdefreiem Hintern. Doch die Freude währte auch diesmal nur kurz, so dass ich mich bis zur letzten Kontrolle mit fast unerträglichem Brennen durchkämpfen musste. Die letzten 10 Kilometer bis dahin bin ich fast nur noch im Stehen gefahren.
Am Nachtschalter der letzten Kontrolltankstelle holte ich mir den vorletzten Stempel ab, dazu eine kalte Cola, ein Flasche Wasser und eine Tafel Schokolade, die ich gierig verschlang. Und jetzt kam Günthers Tipp zum Einsatz. Ich kramte die feuchte Radhose aus meiner Satteltasche und zog sie über die andere drüber. Damit fühlte ich mich, als hätte ich Pampers an. Ich lud den Track des letzten 36 km langen Teilstückes auf meinen Edge und machte mich auf den Weg. Meine Beine zeigten keinerlei Ermüdungserscheinungen, im Gegenteil, sie gierten förmlich danach gefordert zu werden. Mit dem Doppelpack Radhosen am Hintern und ordentlich Druck auf den Pedalen raste ich Richtung Ziel. Der Hintern hielt still und zusätzlich entlastete ich ihn an nahezu jedem Hügel, die ich alle im Wiegetritt und dickem Gang wegdrückte. Zwar ist ein Brevet kein Zeitfahren, aber jetzt wollte ich auf jedem Fall unter 20 Stunden bleiben. Der Schnitt, der auf auf dem Weg nach Ochersleben an den zahlreichen Anstiegen merklich nach unten gegangen war, kletterte nun langsam wieder nach oben.
Um kurz nach 4 Uhr in der Nacht erreichte ich erleichtert und sehr zufrieden das Ziel bei Hartmut in der Wohnstube. Hartmut verpasste mir den letzten Stempel und setzte ein Kreuz, weil es mein erster 400er war. Nach kurzem Geplauder mit Hartmut und zwei weiteren Randonneuren bei einem alkoholfreien Bier machte ich mich die letzten Meter mit dem Rad auf den Weg zur Pension. Leider passte keiner der Schlüssel, die mir die Wirtin gegeben hatte, ins Schloss der Gartentür, so dass ich sie leider aus dem Bett klingeln musste. Dass es eine separate Tür mit passendem Schloss für Gäste an andere Stelle des Grundstückes gibt, konnte ich nicht wissen. Habe ich aber gespeichert, falls ich wiederkomme, vielleicht im nächsten Jahr. Dieses Jahr zum 600er jedoch definitiv nicht, denn es macht keinen Sinn, so lange ich nicht das Sitzfleischproblem gelöst habe. Mehr als 10 verschiedene Sättel habe ich bereits probiert, lange, kurze, breite, schmale, harte, gepolsterte, sollte ich vielleicht auch auf eine Liegerad umsteigen? Nein, noch gebe ich nicht auf!
Bike : 402 km | 3500 Hm | 17:02 h (Netto) | 23,6 km/h (Netto) | 19:43 h (Brutto)
Glückwunsch, dass Du Dich durchgebissen hast. Ich denke, Du solltest Deinem Allerwertesten mal eine Heilpause gönnen. Die frische Haut ist sicher noch sehr empfindlich und braucht Zeit, um sich zu stabilisieren.
Danke! Ja, eine Erholungspause halte ich ebenfalls für angebracht und werde mir bzw. meinem Hintern diese gönnen! 🙂
Ein Tipp noch zur Befestigung/ Sicherung des Garmin. Auf den Fotos meine ich, ein Edge erkannt zu haben. Auch der sollte sich mit einer Schlaufe, wie man man das vom Fotoapparat kennt, zusätzlich gegen Runterfallen sichern lassen. Schlaufe um den Lenkerbügel legen, dann Edge einrasten. Dann musst Du es im Fall des Falles nicht mehr auf der Straße suchen. Funktioniert bei meinem Oregon bestens.
Danke, guter Tipp!
Günthers Jester vor dem Badfenster von Frau Riesche; macht spontan Lust auf Kilometer. Mach‘ es ihm nach (und mir) und steig um aufs RR (liegend)! Du wirst sehen, schneller, weiter, besser!!! Henrik, blauer M-racer aus den Mittelhessen Brevets
Ich werde in Kürze mal das Liegerad meines Nachbarn Probe fahren, aber so schnell gebe ich noch nicht auf mit dem normalen Rennrad! 😉
Ich hatte Dich in Greußen noch an der Tanke gesehen und Dein Gepäck bewundert. Empfehle Linola Creme vor der Fahrt und an jeder Kontrolle nachcremen. Und dazu einen Brooks C17. Wunderbar.
Hallo Georg, Danke für den Tipp, werde sowohl Creme als auch den Sattel mal testen!
So, heute erste Ausfahrt mit dem neuen C17. Sehr vielversprechend! Hätte nie gedacht, dass ein so harter Sattel so bequem sein kann. Waren aber nur knapp 60 km, somit noch nicht aussagekräftig.
Wo ist denn in deiner Planung der Abschluss-600er? Der bei Karl in Nordbayern war übrigens ein Traum! Am 16.06. fahren wir dort auch den 1000er. Komm doch mit! fafnir
Hatte ich so geplant und wäre auch gern mitgefahren, aber solange ich diese massiven Sitzbeschwerden bereits nach 150-250 km habe, macht das keinen Sinn und dann natürlich keinen Spaß!
Für den 1000er beim Karl muss man sich übrigens qualifizieren, könnte ich ohnehin nicht mitfahren, da mir der 600er fehlt!
Teste mal möglichst dünne Sitzpolster (Triahosen) oder Laufhosen völlig ohne Polster. Beides in Verbindung mit einem gut eingefahrenen Ledersattel. Ich selbst bekomme auf dem Rennrad nur dann Probleme, wenn ich Hosen mit Sitzpolstern fahre.
Bin allerdings jetzt schon seit etwa 16000km (=2 Jahre?) nicht mehr RR gefahren. Ich bin der mit dem weißen Flux mit Heckkiste.
Gruß, Sebastian
Danke für den Tipp! Ja, ich erinnere mich an Dich. Fährst du den 600er mit?
Toller Bericht! 🙂
Danke!